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Christine wußte nicht, daß sie Jüdin ist. Michaels Vater wollte nicht darüber reden, daß er im Nazideutschland Raketen gebaut hatte. An den Workshops der Group Analytical Society treffen sich Frauen und Männer, denen das Schweigen der vorigen Generation auf der Seele liegt.

Von Ulla Fröhling

Wie ein zerknüllter Regenbogen leuchtet der bunte Seidenschal im dämmerigen Raum. Zwölf Frauen und Männer schauen stumm auf den Farbrausch, der sich entfaltet. Der 13. Stuhl ist leer. Aus Nepal stammt der flammende Stoff, Geschenk der Freundin eines Freundes. Die Freundschaft ist längst zerbrochen. Das Tuch aber gibt einen älteren Erinnerungssplitter preis: Kinderschuhe, 54 Jahre alt. Johanna setzt das Paar in die Mitte des Kreises. Winzig, braun und abgewetzt, an den Sohlen getrocknete Erde von Straßen, auf denen schon lange kein Kind mehr spielt.

Am Rande des Raumes, ein Tanzsaal fast, 90 Quadratmeter mit schwingendem Holzboden, knacken Buchenscheite im Eisenofen. Das einzige Geräusch.

«How good to know», sagt schließlich Ruth aus London, «wie gut zu wissen, daß manche Kinder, die solche Schuhe trugen, doch erwachsen wurden.» Allen steht sofort das andere Bild vor Augen: Berge von Kinderschuhen im Vernichtungslager Majdanek. Von deren Besitzern ist keiner erwachsen geworden.

Dann ist es wieder still.

Um Schweigen zu brechen, zerrissene Verbindungen wieder zu knüpfen, trifft sich die Gruppe für ein Wochenende im Soonwald, einem einsamen Winkel zwischen Rhein und Nahe. Aus England, Dänemark, Kroatien, Neuseeland und Deutschland sind sie angereist. Frauen und Männer zwischen 30 und 70 Jahren: Therapeut, Pfarrer, Analytiker, Lehrer, Journalist, Ingenieur, Architekt. Katholisch getauft, agnostisch geworden. Atheistisch erzogen, zum Judentum konvertiert. Jüdisch geboren, katholisch erzogen. Lebensgeschichten vielfach verzweigt. Familiengeheimnisse deuten sich an.

Vor kurzem erst erfuhr Christine aus London, daß ihre schweigende Mutter Jüdin war.

(c) Ulla Fröhling



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01.09.2015 17:42


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